Gartenstadt für Menschen mit Weitblick
Die Straßen von Berlin - Heute: Zeltinger Straße
Mittwoch, 4. Mai 2011 02:55 - Von Barbara Kollmann
"Die Zeltinger? Das ist doch eine unserer Hauptverkehrsstraßen, vielbefahren", sagen sie in Frohnau.
Die Zeltinger Straße liegt unschuldig in der Morgensonne. Sie beginnt an der Johanneskirche, erbaut bis 1936 im deutschtümelnden Stil. Gerade sind in der Kirche gerade die Turmfalken wieder eingezogen, die schon seit elf Jahren dort wohnen. Die Straße endet am Waldhotel, wo sich im Restaurant "Rabennest" sonntags die Anwohner der Zeltinger Straße treffen, um Roastbeef, Bratkartoffeln und hausgemachte Remoulade zu essen. Oder Forelle.
Dazwischen ist gerade kein Mensch zu sehen. Die alten Lindenbäume am Straßenrand rauschen, das ist laut in der Frühlingsstille. Laut sind die Amseln, von denen sich jede Mühe gibt, die Amsel von der Villa nebenan zu übertrillern, und ein paar Spatzen haben auch einen Standpunkt, den sie vertreten möchten. Alle 20 Minuten schleicht sich leise der 125er Bus vorbei. Irgendwo, weiter weg, spielt jemand Klavier. Eben eine vielbefahrene Straße in Frohnau. Für alle aus dem alten, westlichen West-Berlin ist die Zeltinger Straße ein kleiner, stiller Weg am Ende der Welt. Nur einige wenige Meter weiter im Wald fängt Brandenburg an. Bis 1990 war hier die Grenze zur DDR, ein Stückchen Deutsche Demokratische Republik ragte auch in die Frohnauer Idylle hinein. Wegen der seltsamen Form nannten sie es den "Entenschnabel". Die Grenze war gesichert mit Bunkern und unfreundlichen Hunden und Grenzsoldaten, und die Kinder, die behütet in den gediegenen Häusern lebten, radelten manchmal dorthin, zum Gruseln.
Ausgerechnet in diesen letzten Winkel des Westens, kam Robyn Wiesener, heute 69 Jahre alt, vor 35 Jahren aus dem hektischen, lauten, weiten Sydney, es liegen mehr als 1600 Kilometer Luftlinie zwischen den beiden Orten. Die Australierin hatte in ihrer Stadt Bernd Wiesener kennengelernt und sich verliebt. Die beiden heirateten, er zeigte ihr Berlin. "Ein Bild von Deutschland, das hatte ich gar nicht. Ich war einfach jung, ich war verliebt ..." Und dann noch die Lindenbäume, und die jubelnden Amseln dazu in Frohnau - sie lernte die Zeltinger Straße kennen und war noch einmal verliebt. Seitdem wohnt sie in ihrer kleinen Jugendstilvilla, Baujahr 1926. Der Bauherr hieß Winkelmann und verdiente sein Geld mit Zahnprothesen. Nachdem die Wieseners die Villa von den Erben gekauft hatten, kamen die Winkelmann-Kinder immer wieder zu Besuch, um zu sehen, wie es ihrem Elternhaus in der Zwischenzeit so ergangen war. Sie schenkten den Wieseners alte Fotos von Wohnzimmer und Garten aus dem Familienalbum. Inzwischen kommen die Enkel manchmal vorbei und schauen sich das Haus ihres Großvaters an.
Ihre drei Söhne, erzählt Robyn, die wuchsen auf wie in einer Geschichte aus einem Kinderbuch. Sommertage lang mit dem Rad unterwegs im Wald, oder das Mittagessen, vergessen beim Bolzen auf dem Konzer Platz, ungefähr an der Mitte der Zeltinger. Und im Winter Eishockey auf dem zugefrorenen, namenlosen Sickerwasser-Tümpel, der nach trockenen Tagen im Sommer verschwindet. Man kannte sich gut genug, dass immer ein Nachbar da war, der aufpasste, dass die Kinder aus der Zeltinger nicht allzu schlimmen Unfug trieben und höchstens mit aufgeschlagenen Knien zum Abendessen wieder nach Hause kamen.
Die "Zeltinger", wie sie manchmal genannt werden, die Frohnauer überhaupt, die verkaufen ihre Häuser nicht, sagt der Frohnauer Makler Dirk Wohltorf (36). Die Haushaltsgröße hier ist kleiner, durchschnittlich 1,9 Personen, bundesweit sind es 2,1. Aber die Kaufkraft liegt um mehr als ein Drittel über dem Bundesdurchschnitt. Vielleicht alle zwei Jahre einmal kommt ein Haus in der Zeltinger Straße auf den Markt.
Junge Familien auf der Warteliste
Wohltorf hat eine Warteliste von Kaufinteressenten, die nach Frohnau wollen. Häuser zur Miete gibt es sowieso kaum. "Ich habe viele junge Familien aus Friedrichshain, Kreuzberg, Prenzlauer Berg, die beruflich etabliert sind und jetzt zu uns wollen", erzählt Wohltorf. Er sieht die Zeltinger und Frohnau überhaupt als Toplage, die Preise für modernisierte Häuser liegen meist zwischen 430 000 und 700 000 Euro, manchmal auch siebenstellig, Tendenz steigend. Bloß, dass eben kaum einer, der hier schon wohnt, sein Haus abgeben will.
"Die Leute bei uns zeigen das Verhalten von Kleinstädtern und haben den weiten Blick der Großstadt", sagt Johannes Neumann, der Ehrenvorsitzende des 100 Jahre alten "Grundbesitzervereins der Gartenstadt Frohnau". Er wohnt noch in dem Haus, das sein Großvater kaufte, sein Sohn blieb mit der Familie, dem Enkel, auch in der Nachbarschaft. Dass die Zeiten sich ändern, merkt Neumann an seinen Besuchern: Früher kamen vielleicht zwei, drei Ratsuchende wegen Nachbarschaftsstreitigkeiten zu ihm. Im Jahr. Er hält seine Donnerstag-Sprechstunde noch immer an seinem Stammplatz ab, Café Zeltinger am Zeltinger Platz, Tisch ganz hinten rechts. Aber inzwischen muss er mit 30 bis 35 Streitfällen rechnen. "Manche reden ja gerne von Toplage und dem Boom von Frohnau", sagt Edeltraud Philipp (83), Maklerin am Zeltinger Platz. Dann, sehr milde, sehr damenhaft, und sehr bestimmt: "Ich nicht." Neue Zeit, gut, sagen die Älteren den Jungen an der Zeltinger. Aber bitte nur nicht zu viel davon. Und das ist auch gut.
Katrin Pollock ist Stadtführerin in Frohnau. Zur Zeltinger Straße fällt ihr als erstes ein: "Dort steht das älteste Haus von Frohnau." Die Gartenstadt ist um diese Straße herum gebaut worden, historisch gesehen. Dirk Wohltorf kennt Pollock natürlich auch - sie zeigt seinen Kunden, wenn sie hierhin ziehen, die neue Umgebung. "Das ist übrigens ein Nachteil hier", sagen andere Leute, die lieber ungenannt bleiben möchten: "Jeder weiß alles. Du gehst einmal morgens unrasiert und in Hausschlappen Brötchen holen am Zeltinger Platz, und am Mittag reden sie schon in der Hainbuchenstraße darüber. Deswegen geht ja auch keiner in Hausschlappen zum Bäcker."
Julius Rumland jedenfalls, der Patentingenieur und Erbauer des ältesten Hauses, Zeltinger 31, ging, obwohl reich geworden, immer zu Fuß zur Arbeit nach Hennigsdorf. Seit 1942 liegt er auf dem Friedhof Frohnau, aber über seinen Arbeitsweg reden sie an der Zeltinger noch immer. Und über sein Haus, das rechtzeitig zur Einweihung der neuen Gartenstadt im Mai 1910 stehen sollte. Eine hastige Arbeit. Klaus Pegler, 72, hat seit seiner Pensionierung als Lehrer (Englisch und Russisch) die Lokalgeschichte erforscht, mehrere Bücher geschrieben. Und so weiß er: "Im ersten Jahr nach dem Einzug fielen den Rumlands die Ziegel vom Dach, und die Tapeten lösten sich." Vier Jahre später wurde das Haus zur Filmkulisse. Stummfilmstar Henny Porten (1890-1960) kam in die Zeltinger, bei Rumlands wurde der Film "Gretchen Wendland" gedreht. Auch das gehört zu den Geschichten, die an der Zeltinger gern erzählt werden.
Der Einstein von Frohnau
Stadtführerin Pollock führt die Besucher auch zum reetgedeckten Haus Nummer 54. Dort drehten sie 2000 den Film "Der Bebuquin - Rendezvous mit Carl Einstein". Einstein war Schriftsteller, er schrieb den Avantgarde-Roman "Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders" und eine erfolgreiche "Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts". Und er war ein Revolutionär, der im Spartakus-Aufstand 1919 kämpfte und im Spanischen Bürgerkrieg. Bis 1928 lebte er an der Zeltinger und war befreundet mit George Grosz, dann zog er ins große Paris und lernte Georges Bataille kennen, den Schriftsteller, und Georges Braque, den Maler und Bildhauer. Einstein, aus jüdischer Familie, floh vor den einrückenden deutschen Truppen aus Paris. 1940 nahm er sich in Pau in Südfrankreich das Leben.
Er hat nur kurze Zeit in der Straße gewohnt - in der Zeitrechnung der Zeltinger zumindest, die über Generationen geht. Aber hier erinnern sie sich noch 83 Jahre nach seinem Auszug an ihn. Für die, die sich nicht auskennen mit der Zeltinger und all ihren Bewohnern in den vergangenen 101 Jahren, haben sie eine Gedenktafel am Eingang zu Carl Einsteins früherem Grundstück aufgehängt.
Es sind noch einige Schritte mehr, bis die Stadtführerin vor dem Haus stehenbleibt, das für sie das interessanteste ist. Fachwerk, Hausnummer 39, 1911 gebaut, und Almut Zirr arbeitet im Garten. Sie kam in die Zeltinger, als sie 14 Jahre alt war - die Zuflucht für ihre Familie 1950, nachdem sie aus Dresden geflohen waren. Die Familie wohnte zuerst möbliert. Drei Mark kostete damals der Quadratmeter Land an der Straße, der Vater wollte kaufen, aber die Mutter war gegen Schuldenmachen. Und der Vater hatte noch keine Arbeit. Sie warteten bis 1965, da kosteten die 3000 Quadratmeter Garten mit Fachwerkhaus 165 000 Mark, aber der Vater setzte sich durch. Nach dem Kauf, doch noch mit Schuldenmachen, stellte er sich vor seine Familie und sprach düster: "Und jetzt werden wir alle verhungern."
Das glaubte Almut damals nicht so recht und kümmerte sich wieder um ihre eigenen Kinderangelegenheiten. "Hopse" haben sie in der Zeltinger gespielt, als sie dort hinzog, erzählt Frau Zirr, oder den Kreisel gepeitscht. "Einfangzeck", sagt der Lokalhistoriker Pegel, "so hieß bei uns Fangen", oder "Zappelball". Aber auf der Zeltinger war das gefährlich, erzählen beide: "Da fuhr doch schon seit 1949 manchmal der Bus durch." Eine vielbefahrene Hauptverkehrsstraße in Frohnau eben.
Das Ausland beginnt nebenan
"Die bleiben am liebsten unter sich, die Frohnauer", sagt Gerhard Wilke, 66: "Frohnauer haben früher auch nur Leute aus Frohnau geheiratet. Oder höchstens mal eine aus Waidmannslust, aber das war Ausland." Er muss zwar selber lachen, aber ernst meint er es auch: "Meine Frau und ich, wir beide kennen viele solcher Paare." Er stammt aus Hohen Neuendorf und ist auch einer der angeheirateten "Ausländer" von nebenan. Er wohnt seit 1970 im Eckhaus Zeltinger/Senheimer Straße, seine Frau Monika, 62, die es von ihren Eltern geerbt hat, seit 1954. Im Keller haben sie noch einen Luftschutzraum - ihr Haus wurde von 1939 bis 1940 gebaut. Da können sie jetzt die Kartoffeln und die Konserven lagern.
Die Nachbarn hatten kleine Kinder, als die Wilkes jung waren und kleine Kinder hatten. Die Nachbarn sprachen über den Auszug ihrer erwachsenen Kinder, als Wilkes erwachsener Sohn auszog aus der Zeltinger. Und die Nachbarn wurden Rentner, als die Wilkes Rentner wurden und Gerhard Wilke seinen Weinverkauf (Groß- und Einzelhandel) aufgab. Und während man älter wurde, achtete man gegenseitig darauf, wenn einer im Urlaub war, dass nicht vielleicht Einbrecher nebenan mit dem Möbelwagen vorfuhren. Gerhard hat dennoch Verständnis für jeden Jungen, der die Zeltinger verlässt: "Wenn man zwischen 16 und 20 Jahre alt ist, kann die Straße fürchterlich sein. Zu beengt, zu beengend." Er versteht auch jeden, der zurückkommt: "Wenn man beruflich dann etabliert ist, verheiratet, und Kinder hat - dann schätzt man die Zeltinger Straße wieder."
"Hier am Platz und in der Zeltinger, da sind solide Leute, die es alle zu etwas gebracht haben", sagt Peter John, 71: "Die zeigen das aber nicht." Vor drei Jahren hat er seinen Feinkostladen am Zeltinger Platz aufgegeben, nachdem er zum zweiten Mal in seinem Geschäft zusammengebrochen war, ein Aneurysma der Herzschlagader, nicht gut. Mehr als 15 Jahre kümmerte er sich darum, dass die Zeltinger nur das Beste zu essen bekamen - wenn sie wollten. Jeder erinnert sich noch an seinen Feinkostladen. Robyn Wiesener, die Australierin in der Zeltinger Straße, an die Salate - 40 verschiedene im Angebot, alle hausgemacht. "Und das Wild", sagt John sehnsüchtig, "frisch aus Schottland für sein Geschäft importiert".
Wie sein Nachfolger nach Johns zweitem Zusammenbruch das Geschäft so schnell niederwirtschaften konnte, ist noch immer eine Frage, die die ganze Zeltinger Straße diskutiert, aber auch gemeinsam noch nicht beantworten konnte. Der Junge aus der Nachbarschaft dagegen, der sich damals sein Taschengeld "beim John" am Zeltinger Platz verdiente, hat inzwischen sein eigenes Geschäft am Fürstendamm eröffnet, Feinkost natürlich. Erfolgreich. "Ein sehr guter Laden", sagt Peter John stolz. In sein früheres Geschäft am Platz will jetzt ein Italiener einziehen: "Ein alter Italiener, also, so alt wie ich", präzisiert John: "Cooler Typ!" Auch Feinkost, natürlich. Er selbst arbeitet seit November wieder zwei Tage in der Woche, nur so, im "Fino" am Zeltinger Platz und kümmert sich dort um das Weinsortiment. Natürlich haben sie ihn nicht vergessen an der Zeltinger, und so kann er immer nur kurze Antworten geben, weil er ständig Bekannte grüßen muss.
Ein letzter Blick in die Zeltinger. Ein älterer Herr, der mit seinen beiden kleinen Enkeln spazieren geht, grüßt freundlich, aber etwas erstaunt, den Fremden - besser dreimal zu viel "Guten Tag" gesagt als einmal zu wenig. Die Amseln sind noch munter, die Linden rauschen weiter und der Flieder duftet. Und in genau acht Minuten, 27 Sekunden wird wieder ein Bus fahren durch diese heimelige, stille, gediegene, baumbeschattete, liebe, diese vielbefahrene Straße ganz am Ende von Berlin.
Quelle: Berliner Morgenpost, 04.05.2011